Wie ein Unglück zur Gründung der DLRG führte
Die Seebrücke von Binz im Jahr 1910. Im Sommer legen dort täglich Ausflugsdampfer aus Städten wie Rostock, Greifswald und Stettin an.
Der 28. Juli 1912 ist ein heißer Sommertag auf Rügen - Hochsaison in dem beliebten Seebad Binz. Auf der Seebrücke des Badeortes herrscht am Abend noch reges Treiben. Hunderte Menschen flanieren über die Brücke und sehen dabei zu, wie die Ausflugsdampfer an- und ablegen. Andere warten auf ihr Schiff oder beobachten die Kriegsschiffe der kaiserlichen Marine, die gerade in der Ostsee vor Binz ankern. Um etwa 18.30 Uhr, so berichtet es später das Rügensche Kreis- und Anzeigenblatt, legt der Dampfer "Kronprinz Wilhelm" an der Brücke an, Passagiere steigen ein und aus. Kurz darauf geschieht die Katastrophe: Unter der Last der Menschenmassen gibt ein Querbalken am Brückenkopf nach, die Anlegestelle bricht auf einer Länge von etwa acht Metern ein. 70 bis 80 Menschen, so berichtet das Blatt, stürzen ins Meer, das an dieser Stelle etwa sechs Meter tief ist.
Tragische Bilanz des Unglücks: 16 Tote
Die Binzer Seebrücke in einer Aufnahme von 1905. Mit 560 Metern war sie 190 Meter länger als die heutige Seebrücke, die 1994 eröffnet wurde.
Es sind grauenvolle Szenen, die sich abspielen: Schreiende Menschen kämpfen im Wasser um ihr Leben. Nur wenige können damals schwimmen, Schätzungen zufolge nur etwa zwei bis drei Prozent der Bevölkerung. Noch viel geringer ist die Zahl derer, die in der Lage sind, Ertrinkende zu retten: Hilflos schauen die meisten Besucher auf der Seebrücke zu, wie die Menschen im Wasser versinken. Andere versuchen, mit Leitern und Stangen die unglücklichen Opfer zu retten. Die Besatzung des Dampfers "Kronprinz Wilhelm" wirft Rettungsgürtel und Taue in die See. Doch für acht Frauen, vier Männer und zwei Kinder kommt jede Rettung zu spät. Sie ertrinken. Zwei weitere Frauen sterben wenige Tage später an den Folgen des Unglücks.
Dass es nicht noch mehr Opfer gibt, ist unter anderem der Besatzung der Marineschiffe zu verdanken, die zur Hilfe eilt. Militärärzte versorgen die Geretteten, die teilweise ohne Bewusstsein sind. Besonders verdient macht sich bei der Rettungsaktion der Militärsergeant Richard Römer aus dem westfälischen Hohenlimburg, der nur zufällig in der Nähe ist, als das Unglück passiert.
Eine mutige Rettungsaktion
Römer, Mitglied der kaiserlichen Garde in Berlin, hält sich ohne Urlaubsgenehmigung auf der Insel auf, weil er das dienstfreie Wochenende am Strand verbringen will. Als er die Ertrinkenden sieht, reagiert der 24-Jährige sofort: Er zieht seine Uniformjacke aus und stürzt sich in die Fluten, um zu helfen. Römer kann zwar schwimmen - wie man Menschen aus dem Wasser rettet, weiß er aber nicht. Um von den Ertrinkenden nicht umklammert und unter Wasser gezogen zu werden, taucht Römer unter den Menschen durch und drückt sie zu dem eingestürzten Stegbalken, wo andere Helfer sie aus dem Wasser ziehen. Nachdem er zwölf Menschen gerettet hat, ist Römer so entkräftet, dass er an dem Balken selbst fast ertrinkt. Für seine mutige Tat verleiht Kaiser Wilhelm II. Richard Römer im Frühjahr 1913 die Rettungsmedaille am Bande.
Die Deutsche Lebens-Rettungsgesellschaft entsteht
Bis zu 60.000 DLRG-Rettungsschwimmer beaufsichtigen heute deutsche Ufer und Strände wie hier in Kühlungsborn.
Die Tragödie von Binz führt dazu, dass sich gut ein Jahr später, am 19. Oktober 1913, die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) gründet. Die Gesellschaft setzt sich dafür ein, dass mehr Menschen lernen zu schwimmen und andere im Wasser zu retten. Bis heute gilt Richard Römer bei der DLRG als eine Art geistiger Vater.
Historie der DLRG
Am 19. Oktober 1913 wird die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft gegründet. Seitdem hat die DLRG über 66.000 Menschenleben gerettet und das Schwimmen zur Mode gemacht. mehr
DLRG rettete bislang über 66.000 Menschen
Mittlerweile versehen alljährlich 40.000 bis 60.000 ehrenamtliche Rettungsschwimmer der DLRG an den deutschen Gewässern ihren Dienst. Seit der Gründung der Organisation haben DLRG-Helfer über 66.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Während Schätzungen zufolge 1912 in Deutschland noch rund 5.000 Menschen ertranken, waren es 2012 nur noch 383. In Binz habe es schon seit Jahren keine Toten mehr gegeben, berichtet Daniel Dittmer. Er ist einer von 23 Rettungsschwimmern, die im Sommer den Strand des Rügener Seebades beaufsichtigen. Das Unglück vor hundert Jahren ist ihm und seinen Kollegen trotzdem präsent: "Jeder von uns geht irgendwann einmal zu jener Gedenkplakette an der Seebrücke, die an die Binzer Tragödie erinnert."